Im Zuge der Ausschreibung für die Forschungs- und Schaffensresidenz für Architekten, Architekturforscher, Illustratoren und Autoren an der Academia Belgica in Rom im Jahr 2023 gingen sechs Bewerbungen ein. Die am 24. Januar zusammengetretene Jury, bestehend aus Eline Bleser (luca), Claude Kremer (Centre national de littérature) und Anne Simon (Preisträgerin 2022), lobte sowohl die Vielfalt und das Engagement als auch die Qualität der eingereichten Projekte.

Die Jury entschied einstimmig, die Residenz an Nathalie Kerschen für ihr Forschungsprojekt „URBS ANIMALIS“ zu vergeben.


Erläuterung der Jury
Die Jury honorierte insbesondere die von Nathalie Kerschen in ihrer Bewerbung präsentierte Thematik, die eine natürliche Fortsetzung der im Rahmen ihrer Dissertation durchgeführten Forschungen darstellt. Ihrem Konzept liegen Präzision und Methodik zugrunde, vereint mit einer geradezu intuitiven Herangehensweise in Situ. Des Weiteren konnte sie die Jury durch ihren vorbildlichen wissenschaftlichen Ansatz überzeugen.

Das von Nathalie Kerschen gewählte Arbeitsthema steht im Einklang mit den aktuellen – noch vergleichsweise jungen – Überlegungen, die zeitgenössische Konzeption der Stadt im Hinblick auf eine integrative Koexistenz von Lebewesen im urbanisierten Raum zu hinterfragen. Seine Relevanz zeigt sich primär im Hinblick auf die architektonischen Forschungen, die sich mit der Bewohnung der Natur durch den Menschen beschäftigen.


Das Projekt (Auszug aus den Bewerbungsunterlagen)
„Inspiriert durch den hermeneutisch-phänomenologischen Ansatz der Architektur und die jüngsten Fortschritte in der Öko-Phänomenologie – dem philosophischen Versuch, sich durch die „Natur der Erfahrung“ (Toadvine) auf die „Erfahrung der Natur“ einzulassen – sowie die anthropologischen Tierstudien, zielen meine kreativen Forschungsprojekte an der Schnittstelle zwischen Architektur und spekulativem Design darauf ab, die Beziehung zu den Tieren Roms durch das von dem Phänomenologen David Abram als „Tierwerden“ benannte Prisma zu betrachten.

Dieser proto-öko-phänomenologische Ansatz beruht auf der Vorstellung, dass menschliche Körper auf der Grundlage verschiedener Bedingungen und gelebter körperlicher Erfahrungen den nichtmenschlichen Körpern gleichkommen. Dies kann mit den Begriffen „Interanimalität“ und „Einfühlung“ assoziiert werden, die durch den Philosophen Maurice Merleau-Ponty entwickelt wurden – eine körperliche Fähigkeit, die Mensch und Tier miteinander teilen. Die (Öko-)Phänomenologie konzentriert sich auf das tierische Erleben und erschafft damit einen Ausgangspunkt, vor dem die räumlichen Konditionen und Situationen nichtmenschlicher Lebewesen aus einer vertrauten Perspektive betrachtet werden können – als Mitbewohner unserer städtischen und ländlichen Lebensräume. In einer Zeit, in der das exponentielle Wachstum der Stadtbevölkerung, das Artensterben und der Verlust der Biodiversität unumkehrbar scheinen, erhalten die Tiere Roms durch ihre Sichtbarmachung eine Plattform, die sie in die Köpfe der Architekten zurückkehren lässt.“

 

Über Nathalie Kerschen
Nach dem Abschluss ihres Masterstudiums an der École Nationale Supérieure d’Architecture Paris-Malaquais und einem Philosophiestudium an der Universität Paris Sorbonne IV setzte Nathalie Kerschen ihre akademische Laufbahn an der McGill University in Montreal fort. Im November 2022 verteidigte sie ihre Doktorarbeit in der Abteilung Geschichte und Theorie der Peter Guo-hua Fu School of Architecture zum Thema „Reclaiming Nature in Computational Architectural Design: From Biology to Phenomenology“. Neben ihrer akademischen Ausbildung war Nathalie bereits in verschiedenen internationalen Architekturbüros tätig und hat in Zentren für zeitgenössische Kunst ausgestellt, darunter das Casino – Forum d’Art Contemporain in Luxemburg und das iMAL – Art Center for Digital Cultures & Technology in Brüssel. Im Jahr 2022 begann sie, Kurse in Projekttheorie und -praxis in der Abteilung Design and Computation Arts an der Concordia University in Montreal zu unterrichten.

Im Verlauf Ihres Forschungsprozesses konnte Nathalie bereits zahlreiche finanziellen Fördermittel in Anspruch nehmen: das AFR-Stipendium vom Fonds National de la Recherche du Luxembourg (2016-2020), das Schulich-Stipendium (2016) und das Meita-Stipendium (2016-2019) von der McGill University sowie die Exzellenzstipendien für Absolventen der School of Architecture (2021) und die Vollendung der Dissertation (2022) von der Peter Guo-hua Fu School of Architecture.

In Zusammenarbeit mit der Kulturabteilung der Berliner Botschaft des Großherzogtums Luxemburg ermöglicht Kultur | lx – Arts Council Luxembourg einer/einem in Luxemburg ansässigen Choreografin/Choreografen im Zuge einer Ausschreibung eine sechswöchige Residenz für Recherche und Produktion in den Uferstudios Berlin. Dieser Aufenthalt soll die Choreograf*innen ermutigen, in die Berliner Kunstszene einzutauchen, die Vernetzung mit der lokalen Szene zu fördern und langfristig zur Entwicklung ihres beruflichen Werdegangs beizutragen.

Die Jury, bestehend aus Ainhoa Achutegui (neimënster), Mathis Junet (TROIS C-L – Centre de création chorégraphique luxembourgeois), Jérôme Konen (Kinneksbond, Centre culturel Mamer) und Saeed Hani (Choreograf und Stipendiat 2022), übermittelte ihre Vorauswahl nach Berlin. Aus den eingegangenen Bewerbungen wählte die Leitung der Uferstudios Anne-Mareike Hess für die Teilnahme aus.

 

Anne-Mareike Hess

Erläuterung der Uferstudios

Simone Willeit, Leiterin der Uferstudios, lobte die Qualität der von der Jury übermittelten Bewerbungen. Insbesondere konnte Anne-Mareike Hess mit dem von ihr eingereichten Projekt sowie ihrer Absicht überzeugen, im Rahmen der Residenz mit verschiedenen Künstler*innen in Kontakt zu treten und Kooperationen zu initiieren. Die luxemburgische Choreografin ist bereits seit Jahren mit der Arbeit der Uferstudios vertraut und hat die sich dort in Residenz befindlichen luxemburgischen Künstler*innen in ihren Vorhaben begleitet. Diese Forschungsphase wird ihre Verankerung in der Berliner Kunstszene zweifelsohne noch weiter vertiefen.


Biografie

Anne-Mareike Hess (DE/LU) ist als Choreografin und Performerin tätig. Sie wurde am Conservatoire de Luxembourg ausgebildet und setzte ihre Studien danach am HfMDK in Frankfurt am Main sowie am HZT Inter-University Center for Dance in Berlin fort. Als Performerin arbeitete sie bereits mit Choreografen wie William Forsythe (Human Writes), Eeva Muilu, Rosalind Goldberg (MIT and Jump with me), Ingri Fiksdal (Cosmic body) und Antje Velsinger (PERFORM!) und absolvierte Auftritte auf renommierten Bühnen auf der ganzen Welt.

Auch ihre eigenen Werke wurden bereits in zahlreichen Städten sowie auf verschiedenen Festivals in Europa gezeigt, darunter I believe that we are having a dialogue, Tanzwut und Synchronization in process. Ihr erstes Solo Warrior (2018) wurde von Aerowaves Twenty20 ausgewählt, im Jahr 2021 feierten das Telefonprojekt Through the wire sowie das neue Solo Dreamer Premiere.

Über viele Jahre hinweg hat Anne-Mareike eng mit TROIS C-L – Centre de création chorégraphique luxembourgeois (LU) und Skogen (SE) zusammengearbeitet. Seit 2016 ist sie assoziierte Künstlerin von Weld in Stockholm (SE). In den Jahren 2017-2019 wurde sie vom Netzwerk Grand Luxe gefördert, bevor sie 2020-2023 assoziierte Künstlerin in neimënster (LU) wurde.

2012 erhielt Anne-Mareike Hess den Preis für aufstrebende Künstler der „Stiftung zur Förderung junger Talente“, 2015 wurde sie mit dem „Danzpraïs“ des luxemburgischen Kulturministeriums ausgezeichnet.

Anne-Mareike Hess über die Residenz: „Meine Bewerbung für diese Residenz ist von dem tiefen Wunsch motiviert, eine kreative Zeit in Berlin verbringen zu können. Ich möchte meine choreografische Sprache und Praxis außerhalb des Produktionskontextes vertiefen und in meine neue Recherche rund um das Thema ‚Porträt’ eintauchen. Die Uferstudios sind ein dynamischer Ort mit Performances und Festivals, an dem zahlreiche Künstler*innen arbeiten und einander begegnen. Diese Residenz gibt mir die Möglichkeit, mit herausragenden, in Berlin ansässigen Künstler*innen und Kolleg*innen in Kontakt zu treten und sie einzuladen, sich mir im Studio anzuschließen“.

Im Zuge der Ausschreibung für die Recherche- – und Arbeitsresidenz für bildende Künstler:innen am Künstlerhaus Bethanien in Berlin im Jahr 2023 wurden fünf Projekte eingereicht. Bei ihren Zusammenkünften am 28. November in Luxemburg sowie am 30. November in Berlin hob die Jury die Qualität der unterbreiteten Unterlagen und Projekte hervor. In der ersten Runde setzte sich die diesjährige Jury aus Clément Minghetti (Mudam – Luxemburg), Claudine Hemmer (Kulturministerium) und Lisa Kohl (Empfängerin 2022) zusammen, während die Jurymitglieder der zweiten Runde vom Künstlerhaus Bethanien ausgewählt wurden.

Die Jury hat entschieden, die Residenz an den Künstler Yann Annicchiarico und sein Forschungsprojekt „Mitdenken – Von Berberaffen und Kletten im Atelier“ zu vergeben.


Erläuterung der Jury
Die Jury war insbesondere von der vom Künstler aufgebrachten Energie angetan, die es ihm erlaubt, seine Arbeit mit persönlichen Recherchen zu bereichern. Die Komplexität der von ihm gewählten Thematik, mit der er die radikale Andersartigkeit über kognitive Schwellen hinweg erforscht, wurde durch das eingereichte Projekt weiter vertieft. Es folgt dem dünnen Faden, der Mensch und Tier, Natur und Kultur auf künstliche Weise voneinander trennt. Mithilfe des Sinnlichen öffnet er einen Weg zur Wahrnehmung von Phänomenen, die für das kartesische Denken unzugänglich sind, und lässt dabei intime und persönliche Geografien und Themen einfließen. Besonders möchte die Jury des Künstlerhauses Bethanien in diesem Zusammenhang die folgenden Punkte hervorheben:

Wir sind der Ansicht, dass der Künstler einen äußerst vielfältigen ästhetischen Ansatz zwischen Kunst/Forschung und Magie repräsentiert. Indem er sich mit der Beziehung zwischen dem Menschlichen und dem Nichtmenschlichen befasst, konfrontiert er aktuellste Problematiken. Sein Werk erscheint uns entsprechend zeitgenössisch – im besten Sinne des Wortes. 


Das Projekt (Auszug aus den Bewerbungsunterlagen)
„Meine Arbeit zielt darauf ab, die Lebensweise anderer Lebewesen in das menschliche Bewusstsein einfließen zu lassen und die künstliche Trennung zwischen Natur und Kultur aufzuheben. Vor diesem Hintergrund verfolge ich mit großem Interesse die Denkrichtungen der nichtmenschlichen Anthropologie des letzten Jahrzehnts. Der in meinem Portfolio vorgestellte Werkkorpus begann mit einer zufälligen Begegnung, bei der ein Nachtfalter in eine meiner Skulpturen geriet und darin seine Spuren hinterließ. Als fliegende und nachtaktive Wesen unterscheidet sich die biologische Natur der Nachtfalter radikal von unserer Art zu existieren und die Welt wahrzunehmen. Mein kleines menschliches Universum wurde durch eine zufällige Begegnung mit einem Insekt bereichert. Ein weiterer wichtiger Teil meiner Arbeit befasst sich mit der Art und Weise, durch die die moderne städtische Architektur unser menschliches Denken strukturiert und mit der Frage, inwiefern sie für diese künstliche Teilung zwischen Natur und Welt, zwischen Natur und Kultur verantwortlich ist.“


Über Yann Annicchiarico
Yann Annicchiarico (Jahrgang 1983, Luxemburg) hat bereits Einzelausstellungen im KIT – Kunst im Tunnel in Düsseldorf (2020), bei Nosbaum Reding Projects in Luxemburg (2019) und im Centre des Arts Pluriels in Ettelbrück (2018) sowie Gruppenausstellungen im MUDAM – Musée d’Art Moderne Grand-Duc Jean in Luxemburg (2021) und im Museo Archeologico del Chianti Senese in Italien (2019) präsentiert. Seit 2011 ist er als künstlerischer Forscher in der Gruppe ACTH – Art Contemporain et Temps de l’Histoire aktiv, in Partnerschaft mit der École des Beaux-Arts de Lyon. Er hat Künstlerresidenzen in der Darling Foundry in Montreal (2019) sowie in der Villa Medici, Académie de France in Rom (2015) absolviert. Im Jahr 2020 erhielt Yann Annicchiarico das Francis-André-Stipendium für seine erste monografische Ausstellung in einer öffentlichen Institution, die im KIT – Kunst im Tunnel in Düsseldorf gezeigt wurde. 2019 wurde seine Arbeit für das Programm New Positions auf der Art Cologne ausgewählt. Für sein Buch „De Papillons de nuit et de l’échelle de Muybridge“ (Von Nachtfaltern und der Muybridge-Skala) erhielt er im Jahr 2022 das Stipendium für Künstlerpublikation und -dokumentation von Kultur | lx. Er lebt und arbeitet in Luxemburg.

Im Zuge der Ausschreibung für die Recherche- und Kreativresidenz an der Pariser Cité internationale des Arts im Jahr 2023 wurden 11 Projekte eingereicht. Bei ihrer Zusammenkunft am 29. November hob die Jury die Vielfalt, das Engagement sowie die Qualität der eingereichten Arbeiten hervor. Die diesjährige Jury setzte sich aus Souraya Kessaria (Cité internationale des Arts, Paris), Marlène Kreins (Centres d’art de la Ville, Düdelingen), Letizia Romanini (Preisträgerin 2022) Nathalie Ronvaux (Kulturfabrik, Esch an der Alzette) sowie Francisco Sassetti (Philharmonie Luxembourg) zusammen.

Die Jury entschied einstimmig, die Residenz an den Künstler Julien Hübsch und sein Projekt „walls/origins/replacements“ zu vergeben.

Erläuterung der Jury
Der Künstler konnte die Jury insbesondere durch die Reife seiner Ausführungen, die Relevanz seiner Überlegungen und seinen im öffentlichen Pariser Raum und dessen Wandel verankerten Forschungsansatz überzeugen.
Des Weiteren hebt die Jury die Entwicklung in der künstlerischen Karriere von Julien Hübsch hervor und ist überzeugt, dass die Residenz zu einem entscheidenden Punkt in seinem beruflichen Werdegang erfolgt: Im internationalen Kontext der Cité des Arts und im weiteren Sinne auch in der französischen Hauptstadt kann Hübsch seine Praxis und Forschung weiterführen.

Das Projekt (Auszug aus den Bewerbungsunterlagen)
„Ein Großteil meines künstlerischen Schaffens konzentriert sich auf den Vandalismus und die Art und Weise, wie im öffentlichen Raum damit umgegangen wird. Meine Arbeit ist eng mit der Geschichte des Graffiti verbunden: sowohl in Bezug auf die Technik und Verwendung der Sprühfarbe als auch hinsichtlich der Bedeutung des öffentlichen Raums als kreativer Spielplatz.
Während meines Aufenthalts in der Cité Internationale des Arts in Paris möchte ich die historischen Orte erforschen, die weltweit die immense Verbreitung von Streetart und Style Writing begründeten und bereits in den späten 1960er-Jahren als zentraler Knotenpunkt für den Austausch zwischen Graffitikünstlern galten.
Meine Arbeit würde immens von einem Aufenthalt außerhalb meines Produktionsstudios in Deutschland profitieren, insbesondere durch die Recherche vor Ort – an einem der wichtigsten Schauplätze der von mir gewählten Thematik.“

Über Julien Hübsch
Der in Luxemburg und Mainz ansässige Julien Hübsch (Jahrgang 1995, geboren in Esch an der Alzette) hat an der Kunsthochschule Mainz, der Bauhaus-Universität Weimar sowie der HGB Leipzig studiert. Er war unter anderem Schüler von Anne Speier, Franziska Reinbothe, Prof. Shannon Bool, Prof. Thomas Schmidt, Heike Aumüller und Prof. Sven Kroner.
Julien Hübschs Praxis verankert sich in den Konzepten des Vandalismus sowie der Wahrnehmung des städtischen Raums und erschafft Umgebungen, die zwischen Malerei, Skulptur in situ und Rauminstallation oszillieren.

Seine Arbeit war bereits Gegenstand mehrerer monografischer und Gruppenausstellungen in Deutschland und Luxemburg. Er kam in die engere Auswahl für den „Edward Steichen Award“ (2022) sowie den Robert-Schuman-Preis (2021).

Gemeinsam mit den Lëtzebuerger Bicherfrënn – Les Amis du Livre a.s.b.l. sowie dem Centre national de littérature vergibt Kultur | lx – Arts Council Luxembourg im Rahmen einer Ausschreibung eine zweimonatige, mit einem Stipendium verbundene Autorenresidenz im Literarischen Colloquium Berlin (LCB). Diese international renommierte Institution ist literarische Experimentierwerkstatt, Ideenforum und Talentschmiede zugleich und organisiert unter anderem Lesungen, Seminare und literarische Begegnungen.

Die Jury, bestehend aus Christiane Krier (Lëtzebuerger Bicherfrënn), Frank Hansen (Lëtzebuerger Bicherfrënn), Ludivine Jehin (Centre national de littérature), Sébastian Thiltges (Université du Luxembourg) und Nora Wagener (Autorin, luxemburgische Preisträgerin), prüfte die eingegangenen Kandidaturen und übermittelte ihre Empfehlungen an das LCB. Es war die Bewerbung von Jeff Schinker, die erfolgreich aus der Ausschreibung hervorging.

 

Erläuterung der Jury
Jeff Schinker ist ein äußerst aktiver und produktiver Autor, dessen literarisches Schaffen fest in der luxemburgischen Kultur- und Literaturszene verankert ist. Mit einer Vielzahl von Veröffentlichungen stellt er immer wieder seine Experimentierfreude und Offenheit für Neues unter Beweis. Bereits im Jahr 2016 konnte er im Rahmen eines durch die öffentliche Einrichtung L’Œuvre de la Grande-Duchesse Charlotte vergebenen Stipendiums an einer Autorenresidenz am Literarischen Colloquium Berlin teilnehmen, wo er wichtige neue Kontakte knüpfen sowie die Berliner Literaturszene und Buchbranche kennenlernen konnte.

Die Jury würdigte einstimmig die Qualität der Recherche und Argumentation von Jeff Schinkers literarischem Projekt, das sich mit einem in der luxemburgischen Literatur noch kaum behandelten Thema befasst: Emigrationsgeschichten. Für Jeff Schinker ist der Aufenthalt am Literarischen Colloquium Berlin nicht nur besonders relevant für seine Forschung, sondern bedeutet auch einen bedeutsamen Schritt in seiner Karriere sowie für seine Entwicklung als Autor.

Die Jury sieht in dieser Residenz einen fruchtbaren Beitrag zur Entwicklung und Bekanntmachung von Autoren*innen und Literatur in und aus Luxemburg.


Biografie des Autors
Nach einer anekdotenreichen Kindheit verbringt der 1985 geborene Jeff Schinker das undankbare Teenageralter damit, Tonnen von Büchern zu verschlingen – was nachhaltige Auswirkungen auf sein Verdauungssystem haben sollte. Mit seinem Umzug nach Paris beginnt ein schier endloses Universitätsstudium, das Schinker eines Tages mit einer Doktorarbeit in Komparatistik krönen möchte – sollte er sich noch einmal zu den Freuden des Studentendaseins zurücksehnen. Sein ausschweifendes Leben in der französischen Hauptstadt ist eindeutiger Vorbote einer Schriftstellerkarriere. Es fehlen nur die entsprechenden Texte. Die ersten in seinem Studio verfassten Schriften hätte nicht einmal ein Max Brod zum Anzünden seines Kamins verwendet. Doch der Schriftsteller in spe übt und beharrt, wie sein Beitrag zu den Fragments 3973, erschienen 2013 bei Hydre Éditions, unter Beweis stellt. Nach der Veröffentlichung von Retrouvailles im Jahr 2015 beim selben Verlag überschlagen sich die Ereignisse. Da er trotz des sagenhaften Erfolgs seiner ersten Publikation nicht von den Früchten seiner Feder leben kann (allein im Jahr 2022 hat der Verlag ganze zwei Exemplare verkauft), geht Jeff Schinker in den Journalismus und wird Leiter der Kulturseiten des Tageblatt. Nach diversen Veröffentlichungen in französischen und englischsprachigen Anthologien meldete er sich mit Sabotage zurück, einem größenwahnsinnigen Projekt, das in vier Sprachen geschrieben und zum kommerziellen Scheitern verurteilt ist. Das Werk schafft es dennoch auf die Shortlists des Prix Servais, des Lëtzebuerger Buchpräis sowie des Literaturpreis der Europäischen Union. Neben diesen beiden Beschäftigungen veranstaltet er Leseabende, die seinen Bücher ähneln (sprich: ein wenig verrückt). Nachdem er seinem Verleger das Manuskript von Ma Vie sous les tentes übergeben hat, das erneut die Shortlist für den Prix Servais erreicht, verschwindet er in der Wildnis – desillusioniert von der Welt im Allgemeinen und dem literarischen Mikrokosmos im Besonderen. Einem hartnäckigen Gerücht zufolge soll er an einem vierten Roman arbeiten. Noch ist nicht viel dazu bekannt – fest steht nur, dass die in ihm enthaltenen Sätze wieder viel zu lang sein werden.

 

Die Residenz am LCB wird durch eine Zuwendung der Lëtzebuerger Bicherfrënn – Les Amis du Livre a.s.b.l. ermöglicht, die ihre Unterstützung für das literarische Schaffen betonen. Ein Teil des Erlöses aus dem Verkauf gebrauchter Bücher durch die Freiwilligen der Lëtzebuerger Bicherfrënn kommt der luxemburgischen Literaturproduktion zugute.

Im Rahmen dieses Stipendium verpflichtet sich der Autor zudem zur Verfassung eines »Bourglënster Ried«, das in Heftform und limitierter Auflage veröffentlicht wird. Das Centre national de littérature unterstützt dessen Umsetzung und beteiligt sich außerdem als Mitherausgeber.

 

In Zusammenarbeit mit dem Kunstzentrum Fonderie Darling in Montreal ermöglicht Kultur | lx – Arts Council Luxembourg bildenden Künstler*innen eine dreimonatige Recherche- und Kreativresidenz in Kanada. Im ersten Jahr wird die Künstlerresidenz in der Fonderie Darling als Pilotprojekt im Rahmen des Austauschprogramms zwischen Montreal und Matapédia im Bahnhof von Matapédia auf der Gaspésie-Halbinsel um drei Wochen verlängert.

Im Zuge der Ausschreibung hat sich die aus Stéphane Meyers (Rotondes), Stilbé Schroeder (Casino Luxembourg – Forum d’art contemporain) und Suzan Noesen (Künstlerin und Preisträgerin der Residenz 2022) bestehende Jury entschieden, die Residenz an Justine Blau für ihr Projekt VOYAGE EN SOLASTALGIE zu vergeben.

 

Erläuterung der Jury
Justine Blau weist einen soliden und regional verankerten Werdegang vor, während sie sich gleichzeitig verschiedensten Einflüssen und Horizonten öffnet. In ihre Fotocollagen lässt die Künstlerin Reflexionen über die Landschaft sowie deren Transformation durch klimatische und menschliche Einflüsse einfließen. In den vergangenen Jahren hat Justine Blau dieser Thematik eine ethische und ontologische Dimension hinzugefügt und begonnen, die die Landschaft bezeichnenden Pflanzen und sie bewohnenden Wesen in ihren vielfältigen Interaktionen zu betrachten. Weiter haben sie diese Forschungen zur Geschichte der menschlichen Beziehungen mit seiner natürlichen Umwelt geführt, die von Beherrschung und Domestizierung sowie von Erzählungen und Glauben geprägt ist – und im starken Kontrast zu der von anderen Arten gepflegten gegenseitigen Abhängigkeit steht. In ihren jüngsten Recherchen sind es die Erinnerungen an vergangene Landschaften sowie die Konfrontation mit deren Entwicklungen und Veränderungen, die die Künstlerin zur Beschäftigung mit Bevölkerungsgruppen veranlassen, die durch die fortschreitende Domestikation und den Wandel ihrer Umwelt ein tiefes Trauma (Sostalgie) davontragen. Aus ihren konzeptuellen und quasi-wissenschaftlichen Recherchen entwickelt Justine Blau in Form von Videos, Installationen oder Wandteppichen plastisch überaus ausgereifte Werke.

Neben der eigentlichen Qualität der von Justine Blau präsentierten Arbeiten ist die Jury der Überzeugung, dass der Ansatz der Künstlerin sowie ihr Projekt, das sich mit der Art und Weise auseinandersetzt, wie die indigenen Gemeinschaften Kanadas die Idee von Natur und Landschaft verstehen und vermitteln, während eines Aufenthalts in Montreal zur vollen Entfaltung kommen können. Die Jury entschied sich zudem dafür, die Investition der Künstlerin in die luxemburgische Szene und die um sie herum geschaffenen Synergien zu würdigen. Ihr experimenteller Ansatz, die zahlreichen kollaborativen Aspekte ihres Schaffens sowie ihre Fähigkeit, neue Türen zu öffnen und Verbindungen zu knüpfen, sind weitere Bereicherungen, die diesen Kurzaufenthalt äußerst fruchtbar gestalten dürften.


Über Justine Blau
Justine Blau verfolgt in ihrer Arbeit einen multidisziplinären Ansatz, der Skulpturen, Installationen, Fotografien und Videos miteinander verbindet. In ihren Projekten behandelt sie ontologische Fragen rund um die Beziehung des Menschen zur Natur, zum Bild und zur lebenden Welt. In Luxemburg und Europa waren ihre Werke bereits Gegenstand zahlreicher Ausstellungen, darunter kürzlich VIDA INERTE in der Kunstgalerie Nei Liicht in Düdelingen (2020), mit der demnächst im K. Verlag in Berlin erscheinenden Publikation THE VEIL OF NATURE. Aktuell finalisiert sie außerdem ihren Film PHUSIS, der sich mit der Seifenblase als flüchtigem Moment beschäftigt und für den sie eine Carte Blanche von Filmfund erhalten hat. Im Jahr 2019 war sie in Künstlerresidenz in der Cité internationale des arts in Paris.

Der autodidaktische Künstler Sacha Hanlet ist von 2021 bis 2024 Artist in Residence in der Kulturfabrik, um dort an seinem Soloprojekt „Them Lights“ zu arbeiten.

Sein Aufenthalt als Artist in Residence begann offiziell am 15. März 2021 und endet am 14. März 2024. Während dieser drei Jahre hat Sacha Hanlet die Gelegenheit, sein Projekt von A bis Z zu entwickeln (Texterstellung, Komposition, visuelle Identität, Bühnenkonzept …), begleitet und unterstützt vom Team der Kulturfabrik und ihren Partnern.

Sacha Hanlet ist seit 17 Jahren Mitglied der Gruppe Mutiny on the Bounty und kennt die Kufa, wo er seit 16 Jahren probt, gut. Das 2017 geborene Projekt Them Lights umfasst bisher fünf Singles (und drei Videoclips): Got No, Yesterday, Mysterious Lights, Crimson Walls und Feeling Good (zusammen mit Faruk). Die Musik von Them Lights ist eine gelungene, avantgardistische Mischung aus Pop, Elektro und RnB, dunkel und mit viel Groove.

Der 40-Jährige hofft, dass er durch diesen Artist-in-Residence-Aufenthalt dem Schaffensprozess endlich sehr viel Zeit widmen und sein Projekt perfektionieren und professionalisieren kann: vom Schreiben über die Inszenierung bis hin zur visuellen Identität. Mehrere Phasen des Forschens, Experimentierens und Schaffens (Licht, Text, Sound, Videoclips …) werden ihm so ermöglichen, seinem künstlerischen Ausdruck den letzten Schliff zu geben.

Sacha Hanlet sieht Them Lights als umfassendes künstlerisches Projekt. Musik, Bilder, Licht und Sound sind voneinander unabhängig. Das Set „soll für das Publikum ein echtes Erlebnis sein, es soll sich vom Klang, dem Licht und den verschiedenen szenischen Elementen mitreißen lassen“. Sacha Hanlet, der auch bei Events als Techniker arbeitet, ist gewohnt, in alle Aspekte der Musikproduktion und des musikalischen Schaffens involviert zu sein. Er hofft, dass er seine ganzheitliche Vision von Musik vollständig umsetzen kann.

Die Dokumentation des Projekts (durch Videos, Fotos, Texte …) macht einen wichtigen Teil seiner Arbeit in der Kulturfabrik aus.

Die Kulturfabrik wandte sich an Kultur | lx, um dem Lenkungsausschuss der Residenz beizutreten. Kultur | lx berät den Künstler bei der Internationalisierung seines Projekts im Rahmen seiner Aufgabe, die Karriereentwicklung luxemburgischer Künstler und Kulturschaffender zu unterstützen. Ziel ist es, den Künstler und die Kulturfabrik bei ihrer Exportstrategie für das Projekt zu unterstützen, indem das Team sein Fachwissen zu diesem Thema weitergibt. In regelmäßigen Abständen wird ein Austausch organisiert, um die Strategie zur Förderung des Projekts im Ausland zu erörtern, sich über die verschiedenen potenziellen Märkte auszutauschen und Ratschläge zur Entwicklung und Ausrichtung des Projekts zu geben. Des Weiteren hat Kultur | lx die Aufgabe, den Künstler und die Kulturfabrik mit der Industrie auf internationaler Ebene zu vernetzen.

Them Lights präsentiert seine neue Show am 5. November 2022 in der Kulturfabrik. Mehr Informationen hier.

Im Zuge unserer engen Bezüge zu den Francophonies hat Kultur | lx Hassane Kassi Kouyaté, den Direktor der Francophonies – Des écritures à la scène, beim Theater-Fokus im vergangenen Frühjahr getroffen und willkommen geheißen. Bei dieser Gelegenheit konnten wir uns mit ihm über das Festival unterhalten, das am 20. September mit einer Hommage an Monique Blin, die 1984 die Francophonies gegründet hatte, begann.

Kultur | lx: Was bedeuten die Francophonies für Sie? Was sind die Herausforderungen?
Hassane Kassi Kouyaté: Es gibt so viele Frankophonien wie es Menschen gibt. Die Sprache ist ein kulturelles Objekt, das eine Kombination von Kulturen ausdrückt, und die Frankophonie ist ein kultureller Akt. Der Akzent, die Art und Weise, wie ein Laut betont wird, macht das Wort aus und drückt ebenfalls verschiedene Frankophonien aus.

Was mich interessiert, ist, Autoren zu hören, die die Welt anders darstellen, die eine andere Beleuchtung einbringen. Wie sie mithilfe dieser verschiedenen Frankophonien ein und dieselbe Welt erzählen.

Wie stellen Sie sich das Programm und Ihre Beziehung zu den vielfältigen frankophonen Literaturen vor?
Wir konzentrieren uns auf eine Region, um dem Publikum den Unterschied zwischen den Frankophonien zu verdeutlichen, aus denen politische, akademische oder soziologische Diskussionen hervorgehen (Anm. d. Red. Das Herzstück des Festivals wird in diesem Jahr der Archipel sein. Inseln der Worte, der Lieder, Inseln der Musik oder des Tanzes, Inseln der irdischen und literarischen Nahrung. Und vor allem Begegnungen, Verbindungen, über die Grenzen hinweg, um einen Archipel zu bilden).

Wir begegnen immer anderen Arten zu konzipieren, zu sprechen. Die verschiedenen Theater- und Schreibformen ermöglichen es dem Künstler, in einer universalen Form wahrheitsgemäß zu sprechen.
Wir sind Handwerker, jedes Projekt ist etwas Besonderes und wir nehmen uns die Zeit, die es braucht, um diese Projekte zur Existenz zu bringen.

Wie sind Ihre ersten Beziehungen zu luxemburgischen Autoren?
Die Begegnungen im Rahmen dieses Fokus eröffnen neue Perspektiven und Ideen für eine zukünftige Zusammenarbeit. In Luxemburg gibt es einen echten Wunsch, Autoren zu begleiten, und eine sehr positive Dynamik.

Erstmals wird übrigens der luxemburgische Autor Ian de Toffoli sechs Wochen lang in Residenz sein, um an seinem nächsten Projekt Léa et la théorie des systèmes complexes zu arbeiten, das zu Beginn der Spielzeit 2023/2024 in einer Theaterproduktion in Koproduktion mit dem Théâtres de la Ville de Luxembourg und dem Francophonies de Limoges aufgeführt werden soll.

Während das Festival des Zebrures d’automne des Francophonies de Limoges in vollem Gange ist, lässt sich Ian de Toffoli, der sich derzeit bis zum 22. Oktober in Limoges aufhält, von diesem Festival inspirieren: „Jeden Tag kann man hier in mehreren Theatern der Stadt Musik, Konzerte und vor allem Theaterstücke frankophoner Autoren und Autorinnen aus der ganzen Welt sehen, aus der Karibik, Afrika, der Schweiz, Belgien, Kanada und – demnächst – sogar aus Luxemburg. Es ist ein großartiger Ort des Austauschs und des Dialogs, ein Ort, der kulturelle Vielfalt und Weltoffenheit fördert, was wir alle in den dunklen Zeiten, in denen wir leben, dringend brauchen. Es ist ein Festival wie ein Hauch von frischer Luft! Ich habe die Chance, dort Aufführungen zu besuchen, reiche und inspirierende Begegnungen zu machen und mich künstlerisch von dem zu nähren, was ich sehe und erlebe.

Das Künstlerhaus Bethanien öffnet seine Türen vom 30. September bis zum 23. Oktober für eine Gemeinschaftsausstellung (Vernissage am 29. September, 19:00 Uhr), in der die Arbeiten von fünf seiner Residenten vorgestellt werden: François Lemieux (Kanada/Québec), Lisa Kohl (Luxemburg), Nicole Rafiki (Norwegen) , Yun-Pei Hsiung (Taiwan) und Thomas Schmahl (Frankreich).

Fokus auf die Arbeit von Lisa Kohl, Preisträgerin 2022 der Ausschreibung von Kultur | lx, in Residenz seit dem 01. Juli bis zum 31. Dezember.

Das Werk von Lisa Kohl (*1988 in Luxemburg) lässt sich als ein Konglomerat aus digitalen Medien, Installationen, Feldforschung, Dokumentation, Inszenierung und Erzählung begreifen. Die Themen ihrer künstlerischen Bergungsarbeit kreisen um das Ephemere, das Abwesende und das Imaginäre. Ästhetische Phänomene der Absenz, Migration und der individuellen Verortung spielen dabei eine zentrale Rolle. In diesem Spannungsfeld zwischen materieller Präsenz und tatsächlichen Ereignissen einerseits und dem Bereich des potenziell Möglichen, des Fiktiven und Unsichtbaren andererseits, eröffnen sich Lisa Kohl als Künstlerin nahezu unendliche Möglichkeiten, beide Instanzen zur Simulation zu verschmelzen.

Das Video THE GAME (Bihać | Bosnischkroatische Grenze | 2022) erzählt vom Leben und Überleben von Menschen mit Migrationserfahrungen und bedient sich ästhetischer Mechanismen des Gamings. Auf einem Smartphone werden Fluchtwege aus der Sicht eines jungen Afghanen dargestellt. Das Gerät wirkt hierbei wie eine Konsole und erinnert an ein virtuelles Spiel. Auf sensible Weise berichtet der Protagonist im Voiceover über unterschiedliche Formen der Flucht sowie Pushbacks, die er persönlich erfahren hat. Eine subtile Stimmung der Bedrohlichkeit und Spannung begleitet dabei seine Erzählung.

Die Fotoserie BLINDSPOT (Bihać | Bosnischkroatische Grenze | Calais | Frankreich | 2022) verkörpert auf metaphorischer Ebene die Anwesenheit der Abwesenden und das Sichtbare der Unsichtbaren. Die dargestellten Elemente, wie das Obdach, der Mihrab-Teppich und der körperliche Abdruck, verweisen symbolisch auf die Zuflucht und die Aneignung anonymer Lebens- und Gebetsräume. Die sakrale Stimmung bezieht sich hier auf den Glauben und die Hoffnung in Bezug auf Identität und Fremdheit, Intimität und Heimat(losigkeit).

Die Serie HALIDOM (Kanarische Inseln | Spanien-Nordafrika | 2022) stellt das Heiligtum auf ikonografischer Ebene dar – als bildliche Metapher für Leben und Tod, An- und Abwesenheit, Begrenzung und Weite, Höhe und Abgrund. Skulpturale Figuren an kargen Un-Orten und in Grenzzonen werden symbolisch zu Monumenten und Stellvertretern der Ungesehenen. Der Schleier gilt als Synonym für Verhüllung, Schutz und Tarnung. Das Relief und der Faltenwurf des Tuches wecken Erinnerungen an das Göttliche, das Heroische und an Unantastbarkeit. Die Serie konfrontiert uns mit Räumen des Übergangs – Sinnbild für die Sehnsucht nach Freiheit und Erlösung.

Die während Kohls Aufenthalt im Künstlerhaus Bethanien entstandene Videoinstallation ACROSS (2022) konfrontiert uns mit einer brutalistischen Fensterarchitektur und dem Ausblick in die Weiten des Himmels, gesäumt mit sich auflösenden Wolken-Clustern. Beton und Luft, unterschiedlicher könnten diese Materialien nicht sein und trotzdem ergeben sie ein harmonisches Ganzes, das zahlreiche Bilder in uns hervorruft. Von mittelalterlichen Verkündigungsszenen über Fensterdarstellungen in der deutschen Romantik bis hin zu Szenen aus der Filmgeschichte – all diese Bilder verbindet eines: Das Fenster als Schwellenort zwischen dem Dies- und dem Jenseits (in mannigfaltiger Art), der beides nicht nur voneinander separiert, sondern an dem das Getrennte auch miteinander in Verbindung tritt. Die Arbeit enstand in Zusammenarbeit mit dem Sounddesigner Sören Schenk.

AUSSTELLUNGSRÄUME
Kottbusser Straße 10
10999 Berlin

EINTRITT FREI
Di – So: 14 – 19 Uhr

 

 

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Im Rahmen der Berlin Biennale organisierte Kultur | lx vom 20. bis 22. Juli 2022 eine Reihe von Treffen mit Berliner Fachvertretern und Akteuren aus dem Bereich der bildenden Künste. Die Gruppe begann ihre Reise mit einem Besuch bei Lisa Kohl, einer luxemburgischen Fotografin und Videokünstlerin, die seit dem 1. Juli als Artist in Residence im Künstlerhaus Bethanien wirkt.

Nach einem ersten Erfassungsprojekt in Kassel im Juni weitete Kultur | lx sein Förderprogramm „Mobilität, Erfassung und Karriereentwicklung“ auf die Stadt Berlin aus und begleitete die sechs teilnehmenden Künstler*innen bei der Erkundung der hiesigen Kunstszene und Vertiefung bereits bestehender Beziehungen. Drei Tage lang konnten sich die luxemburgischen Künstler*innen und Kurator*innen in diesem Rahmen mit in Berlin tätigen Verantwortlichen von Residenzeinrichtungen, Galerist*innen und Kurator*innen treffen und austauschen.

Residenzen mit variabler Geometrie

Im Künstlerhaus Bethanien fand das erste Treffen mit Christoph Tannert, Direktor, und Valeria Schulte-Fischedick, Kuratorin und Koordinatorin des internationalen Residency-Programms, statt. Die Künstlerhaus Bethanien GmbH ist die erste Künstlerresidenz in Deutschland (gegründet 1974) und seit 2009 in der ehemaligen Lichtfabrik im Herzen des Stadtteils Kreuzberg, nahe dem U-Bahnhof Kottbusser Tor, beherbergt. Seit der Gründung im ehemaligen Diakonissen-Krankenhaus empfing das Künstlerhaus bereits über 950 Künstler in rund 30 Ateliers.

Lisa Kohl ist die diesjährige Stipendiatin des Residenzprogramms im Künstlerhaus Bethanien, das ursprünglich von Focuna initiiert und 2022 von Kultur | lx übernommen wurde. Im Rahmen unseres Besuchs hat sie uns die Türen ihres frisch bezogenen Ateliers geöffnet. Das sechsmonatige Programm ermöglicht es ihr, die Arbeit an ihrem Projekt Shutdown dreams | Angels in fall zu vertiefen und es in einer Mitte September eröffnenden Gruppenausstellung vorzustellen. Des Weiteren wird sie an Atelierbesuchen und Tagen der offenen Tür teilnehmen sowie in einem Artikel des Be Magazin erscheinen. Letzteres veröffentlicht im Auftrag des Künstlerhauses Bethanien kritische Essays über die Arbeit der Residenzkünstler*innen.

Im Anschluss traf die Gruppe auf Isabelle Parkes, Koordinatorin des internationalen Residenzprogramms Callie’s, das 2020 auf Anregung einer in Berlin lebenden amerikanischen Künstlerin im Wedding seine Türen öffnete. Diese Institution beherbergt Künstler*innen aller Fachrichtungen und umfasst Praktiken von Schriftstellerei über Tanz und Musik bis zu Performancekunst. Callie’s empfängt das ganze Jahr über Initiativbewerbungen und lässt aufstrebenden Künstler*innen ein hohes Maß an Flexibilität zukommen.

Rebound Deutschland-Luxemburg

Einer der Höhepunkte für unsere sechs Teilnehmer*innen war das Treffen mit Lidiya Anastasova, Kuratorin beim Neuen Berliner Kunstverein (NBK) und Leiterin der Artothek des NBK. Die Artothek umfasst eine von jedermann ausleihbare Sammlung von 4.000 Kunstwerken des 20. und 21. Jahrhunderts – von Marina Abramović über Victor Vasarely bis Thomas Schütte –, die in Berlin ansässigen Künstler*innen insbesondere im Rahmen von Siebdruckeditionen regelmäßige Aufträge vermittelt. Bei ihrer Teilnahme an den Atelierbesuchen des Visual Arts Focus im Mai 2022 war Lidiya bereits zahlreichen luxemburgischen Kulturschaffenden begegnet.

Die sechs Künstler*innen besuchten zudem ihre Landsleute bei aktuellen Veranstaltungen in Berlin: im Kontext ihrer Ausstellung Relegation ~ via. Voice:over II leitete Catherine Lorent im Kunstverein Tiergarten Berlin am 20. Juli einen Austausch über die Geschlechterfrage in der Kunst. Am 22. Juli eröffnete Eric Mangen in der Galerie Jarmuschek + Partner eine Duo-Ausstellung mit dem ukrainischen Künstler Artjom Chepovetskyy.

Die in diesem Jahr von dem Künstler Kader Attia (FR) organisierte 12. Berlin Biennale findet in verschiedenen Institutionen und Museen für zeitgenössische Kunst sowie an informelleren Orten statt und bildete die Kulissen für diese Treffen. Der Titel Still present! lädt dazu ein, individuelle und gesellschaftliche Traumata unter dem Gesichtspunkt der Réparation zu betrachten – sowohl von Objekten und Individuen als auch von Zeit und Geschichte. Die besuchten Ausstellungen bildeten eine kohärente und reichhaltige Einheit, die das Engagement des an dem Projekt beteiligten Künstlerteams umfassend widerspiegelte. Nach der documenta eine ganz andere Art, die Kunst in direkten Kontakt mit den gesellschaftlichen Verpflichtungen zu stellen – und eine Quelle der Inspiration und Kontemplation für unsere Gruppe.

Das nächste Erfassungsprogramm für bildende Kunst findet am 12. und 13. September während der Fachtage der Biennale in Lyon statt.